Oder: Wie Seelenschrammen
entstehen können
Es war oder es war nicht ein
kleiner Junge, der seine Oma besuchen wollte. Also packten seine Mutter und er
ihre Rucksäcke und stiegen in den Zug. Die Fahrt sollte sehr lange dauern, über
vier Stunden – eine kaum vorstellbare Zeit für einen Jungen von vier oder fünf
Jahren. Am Anfang war alles noch spannend: der Großraumwagen der Bahn, der
kleine Klapptisch an seinem Platz, auf dem der Kleine seinen Dino und seinen
LKW hin und her schieben konnte. Die Welt da draußen flog vorbei, so schnell
konnte man fast gar nicht gucken. Fröhlich sang der kleine Junge ein
Phantasielied. Nach ein paar Takten sagte die Mutter zu ihm, er solle leiser
singen, weil die anderen ihn sonst nicht mehr mögen würden.
An diesem Teil der Geschichte sollte ich schon stutzig
werden. Wieso müssen die anderen ihn mögen? Den ein oder anderen Mitreisenden
mag der Gesang stören. Aber wie viele werden den kleinen Jungen jemals wieder
treffen und sich dann erinnern, dass er einmal so laut gesungen hat? Doch weiter geht’s:
Der Junge sang etwas leiser
und kommentierte: "Ich kann sehr schön leise singen, ja, Mama?" Das konnte er.
Aber bald war das Lied zu Ende und der Junge wollte lieber herumrennen. Er zog
sich, wie ihm geheißen, seine Schlappen an und ging hinüber zum Fenster neben
der Tür des Großraumwagens. Auch da draußen flog die Welt vorbei und der
Reisende, der ihn so freundlich anlächelte, war viel interessanter. Die beiden
unterhielten sich eine Weile, wobei die kleine Spielzeugfigur guten
Gesprächsstoff lieferte. Derweil packte die Mutter den Thriller eines
Bestsellerautors aus. Darin vertieft mischte sie sich erst wieder ein, als der
Reisende etwas lauter und bestimmter wurde, weil der Kleine überall
herumkletterte. "Nein, nicht, lass das sein! Komm wieder her!" Und so kletterte
der Junge wieder zurück auf seinen Platz.
Essen war jetzt ein gute
Idee und bald knabberte er am angebotenen Wurstbrot. Mutter und Sohn
unterhielten sich über "Tigers". – "Nein", verbesserte die Mutter, "das heißt
Tiger, nicht jeder Plural hat ein S am Ende." Als das Thema "Tigers – Tiger,
das heißt Tiger!" – ausdiskutiert war, packte der Junge ein Aufziehauto aus und
zog es hin und her über den Rand der Fensterscheibe. "Nicht, so geht es kaputt.
Du kannst das Auto ja bei der Oma über das Parkett laufen lassen." – "Wann sind
wir denn bei der Oma?"
Da war sie, die Frage aller Fragen, wenn man aufbricht zu
einer unvorstellbar langen Reise. Man sollte versuchen, sie so lange wie
möglich hinaus zu schieben und wenn sie gestellt ist, ein paar
Ablenkungsmanöver in der Hinterhand zu haben. Sehen wir, wie sich die
Geschichte weiterentwickelt:
"Oh, das dauert bestimmt
noch zwei Stunden." – "Aber wann sind wir dann da?" Jede Antwort, die die
Mutter gab, konnte den Jungen nicht zufrieden stellen und so wiederholte er
seine Frage wieder und wieder. "Sehe ich so aus, als ob ich an der Uhr drehen
könnte?" – "Ja!" – "Ja gut, aber davon vergeht die Zeit nicht schneller und der
Zug kann nicht fliegen." Nein, fliegen konnte der Zug nicht, so schnell er auch
fuhr. "Aber wann ..." – "Guck mal, wenn der kleine Zeiger da und der große
Zeiger ganz oben steht, dann sind wir da." – "Wie lange ist das? Der große
Zeiger muss noch so weit gehen." Der Zug fuhr weiter, vorbei an Feldern und
durch Städte und Dörfer. "Guck doch raus, was du siehst." Der Junge entdeckte
auf einem vorbeiziehenden Bahngelände einige schwarz-gelbe Geländer. "Ich seh
Stangen." – "Nein", sagte seine Mutter, als sie aufblickte. "Ich seh nur
Bäume."
Es ging vorbei an
Straßen und Häusern und der kleine Junge bot seiner Mutter eine Geschichte an: "Vielleicht gehen die da wohnen auf den Spielplatz." Aber diese, zusehends
genervt, tat das murmelnd ab: "Das glaub ich eher nicht." Auch seine
Feststellung, dass er das da draußen jetzt alles erkenne, wurde abgeschmettert,
denn schließlich konnte das nicht sein, weil das Ziel noch lange nicht in Sicht
war. Damit war der Junge erneut auf sich allein gestellt.
Und der Kleine stellte die
einzige Frage, mit der er seine Mutter irgendwie erreichte: "Wann sind wir denn
da?" Er stellte sie in allen möglichen Variationen, abwechselnd jedes Wort
betonend, weinerlich, sich auf seinem Sitzplatz windend, und vor allem: Er
stellte sie immer wieder. Und je öfter er fragte, desto mehr verlor die Mutter
ihre Fassung. "Kannst du nicht mal deinen Mund halten?" – "Ich kann aber meinen
Mund nicht halten." – "Sei doch einfach mal still!" Und: "Sehe ich so aus, als
ob mich das interessiert?" Oder: "Schreib’s auf!" – "Ich kann aber doch gar
nicht schreiben."
Schreiben ist ein schönes Stichwort. Ein paar Malstifte
und etwas Papier hätten den Kleinen sicher für eine Weile beschäftigt. Oder ein
Bilderbuch, das man gemeinsam hätte lesen können. Oder ein Spiel für zwei. Aber
unsere Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende:
Nachdem sein Durst gestillt
und die Flasche für später neu befüllt war, griff der Junge noch einmal in
seinen Rucksack mit dem Spielzeug und prompt fiel etwas auf den Boden. Also zog er
wieder seine Schlappen an, kletterte unter den Sitz und angelte das Teil
hervor, kommentiert von seiner Mutter: "Auf deine Sachen aufpassen, kannst du
also auch nicht." Und Mutters Sachen waren sowieso tabu. "Ich habe dir gesagt,
du sollst die Finger von meinen Sachen lassen!" – "Warum?" – "Lass es!"
So beschäftigte er sich
wieder mit der Frage, wann man denn nun endlich bei der Oma ankäme, und hörte
von seiner Mutter in verzweifelt wütendem Ton: "Wenn du dauernd so quengelst,
dann können wir eben nicht mehr zur Oma fahren. Kannst du nicht mal für eine
Sekunde still sein?" Und schließlich, als der Zug schon im Zielbahnhof einfuhr
und die beiden ihre Rucksäcke schulterten, bekam der kleine Junge eine letzte
Antwort: "Wenn du hier noch weiter quengelst, dann mag die Oma dich nicht
mehr!" – "Aber die Oma freut sich, wenn ich komme. Wo ist die Oma?" – "Weg!"
Auf dem Bahnsteig verloren
sich ihre Spuren im Gewühl der Menschen. Reisende von hier nach dort.
Mir tut’s in der Seele Leid um so einen kleinen Jungen, der sich mit seinen Mitteln so tapfer gegen die wütende Not – oder die (un)nötige Wut? – seiner Mutter wehrt. Ich hoffe, seine kleine Seele trägt keine irreparabel großen Schrammen davon. Seiner Mutter wünsche ich Gelassenheit und etwas Balsam für die eigene Seele.
Was ich aus dieser Geschichte lerne? Wenn ich mal mit einem kleinen Menschenkind auf Reisen gehe, dann werde ich meinen Bestsellerroman zu Hause lassen und lieber bunte Stifte, ein Geschichtenbuch und etwas Phantasie einpacken. Denn ich bin die Erwachsene, der eine junge Seele anvertraut ist.