Montag, 19. März 2012

Nummerngirl


Ein Telefonat mit einer Freundin hat mich wieder darauf gebracht. Wir sprachen über Wartezeiten für Therapieplätze bei psychischen Erkrankungen. Immer mehr Menschen, so scheint es, werden heutzutage seelisch krank. Oder waren es früher auch so viele, aber damals wurde es nicht als Krankheit anerkannt, sondern als Zustand abgetan? Wie dem auch sei, die flächendeckende Versorgung psychisch Kranker ist heute immer noch nicht so gegeben wie die physisch Kranker. Mehr Kliniken würden also Besserung verschaffen.

Aber mir geht noch etwas anderes durch den Kopf. Dass immer mehr Menschenseelen leiden, sollte der Gesellschaft – also uns – zu denken geben. Was ist die Ursache für all die Depressionen, Burn Outs, Zwangsstörungen, Ängste und Süchte? Liegt ein Grund in einem verrückten Menschenbild unserer schnelllebigen und rationalisierten Gesellschaft? Welchen Wert hat der Mensch?

Für meine Krankenkasse bin ich eine Mitgliedsnummer. Ich bin aber auch eine Kontonummer, Steuernummer, Personalnummer, Versicherungsnummer, Kundennummer, Teilnehmernummer usw. Wo ich noch keine Nummer bin, kann ich vorübergehend eine ziehen. Das macht alles einfacher, schneller, leichter. Irgendeine Personalnummer lässt sich einfacher kündigen als ein Mensch mit seiner ganzen Lebensgeschichte. Der Antrag einer Sozialversicherungsnummer auf eine Kur ist schnell abgelehnt. Wie leicht geht der einzelne Mensch und mit ihm seine Würde hinter einem Aktenzeichen verloren?

Der Begriff Nummerngirl bekommt eine ganz neue Bedeutung. Doch genau das möchte ich nicht sein. Wo Menschen zu Nummern degradiert werden, da ist das System krank. Heilen kann das keine Klinik, sondern nur das System selbst, die Gesellschaft – also wir. Ich will auf der Hut sein, andere zu reduzieren oder mich reduzieren zu lassen. 

Was für ein Reichtum und welche Fülle an Leben, um die wir uns im Miteinander betrügen würden!