Freitag, 21. September 2012

Das Festbankett


Alles ist für den großen Empfang gerichtet: die lange, festlich gedeckte Tafel, der prachtvolle Blumenschmuck in allen Räumen, die im hellen Licht der goldenen Kronleuchter erstrahlen. Auch das Personal in den makellosen Uniformen mit den blütenweißen Westen steht bereit.

Wenn nur das Warten nicht wäre! Es ist fünf vor zwölf – lange kann es nicht mehr dauern, bis der Ehrengast endlich eintreffen wird.

Die geladenen Gäste in ihren schmucken Festtagskleidern sind schon da: Die Routine plaudert in der Halle mit dem Alltagstrott. Die Gleichgültigkeit lehnt in der Tür zum Speisesaal und die Bequemlichkeit hat sich in einem Sessel niedergelassen. Die Inkonsequenz diskutiert mit dem guten Willen, während die Angst vor der eigenen Courage nervös auf und ab geht. Die Ausdauer hat sich in letzter Minute entschuldigt, ihr Bruder, der Idealismus, sei ernsthaft erkrankt.

Draußen fährt eine große Limousine vor. Aber es ist nur die Einsicht, wie immer ein bisschen zu spät. Sie hat Nachricht vom gegenseitigen Respekt, den bisher niemand so richtig vermisst hat: Er steckt in schwierigen Verhandlungen mit der Machtgier und der Verlustangst fest und musste seine Teilnahme am Festbankett wieder absagen.

Vom Tross des Ehrengasts ist noch immer nichts zu sehen, weder vom üblichen Aufgebot an Sicherheitskräften, noch von ihm selbst. Die Ungeduld macht sich in der Tafelrunde breit und beginnt ein Streitgespräch mit der Selbstgefälligkeit und dem falschen Stolz.

Plötzlich verstummen die Streithähne, ihr Blick fällt auf den Ehrenplatz. Den hat ein Pärchen eingenommen, ganz offensichtlich Geschwister. Unbemerkt von der Gästeschar, die so sehr mit sich selbst beschäftigt war, sind sie in den Festsaal gekommen. Ihr Erscheinungsbild will nicht so recht in die illustre Gesellschaft passen. Sie tragen keinen Schmuck, ihre Kleidung ist an einigen Stellen zerrissen und die Schuhe haben sie auf ihrem langen Weg verloren. Eilig stürzt das Personal herbei, um diese Fremden zu entfernen. Doch dann halten sie inne. Die beiden strahlen eine große innere Ruhe und Würde aus und sind dabei bescheiden und freundlich. Ihre Augen lächeln.

Der sehnlichst erwartete Ehrengast hat seine Zwillingsschwester mitgebracht, denn beide sind unzertrennlich: der Frieden zwischen den Völkern und die Bereitschaft zur Versöhnung.


(zum heutigen Internationalen Tag des Friedens, 1981 von den Vereinten Nationen ausgerufen als globaler Appell für Gewaltfreiheit und Waffenstillstand und zur Stärkung der Idee des Friedens zwischen den Völkern)