Mittwoch, 18. Dezember 2024

Der Lebensprobenraum


"Tritt ein ins Experiment deines Lebens!" Ein großes Schild lockt auf dem Jahrmarkt in ein rundes Zelt mit einer hohen Spitze, auf der eine Fahne weht. Im Zelt steht nur ein Automat in der Mitte, daneben eine Dose mit altertümlichen Münzen zum Wechseln, falls man nur Scheine in der Tasche hat. 10 Minuten kosten 3 Münzen. Ich werfe sie in den Geldschlitz an diesem wundersamen Automaten und bin gespannt, wohin mich das führt.

Im Probenraum fürs Leben ist alles weiß, Wände, Boden, Decke. Alle Arten von Farben stehen zur Verfügung: Wachsmal- und Straßenkreide, Öl-, Aquarell- und Abtönfarbe, Filz- und Buntstifte und auch Bleistifte zum Skizzieren. Wenn ich an die Farben denke, sind sie da. Nur malen muss ich selbst.

Ich beginne, weil mir heute nichts anderes einfällt, wie damals im Kindergarten und male eine Sonne links oben in die Ecke. Strahlen gehen von ihr ab und führen weiter in den Raum und sogleich wird es wärmer. Im Kindergarten damals habe ich die Rutsche aus dem Garten gemalt. Sie war gestreift mit vielen bunten Farben und hatte eine Leiter mit fünf Stufen. Ich male sie und währenddessen entsteht sie dreidimensional im Lebensprobenraum. Vorsichtig stelle ich mich auf die erste Stufe der Leiter. Sie trägt mich und ich wage mich auf die zweite, die dritte, vierte und fünfte Stufe. Ich setze mich auf die buntgestreifte Rutsche und gleite – hei – nach unten und lande hart auf dem Po. Ich habe noch keine weiche Wiese gemalt, die mich sanft hätte auffangen können. Ein sattes Grün und bunte Tupfen für Klee- und Löwenzahnblüten, ich sehe, wie es wächst. Ich male weiter, jetzt sind es Menschen: Spielkammerad*innen, die mit mir rutschen, um die Wette, wer am schnellsten, öftesten, wildesten rutscht. Am Rand stehen nun Bänke aus Holz und darauf sitzen Eltern, Mamas und Papas, die ihre Kinder auffangen, wenn die Rutschpartien allzu dolle werden. Schmetterlinge flattern durch die Luft und am Himmel zieht eine Wolke in Herzform und eine andere sieht aus wie eine Ente.

Aus irgendeinem Lautsprecher zählt ein Countdown die letzte Minute herunter. Ich werfe ein paar Münzen nach und male das nächste Kapitel.

Freitag, 13. Dezember 2024

Eine Causa finita?


Als der Papst endgültig die Kirche schließt, atmet Gott erleichtert auf.
"Na endlich", nuschelt er in seinen Bart, "es hat auch nur zweitausend Jahre gedauert
." In Ewigkeitszeit ist das nur ein Wimpernschlag, in Erdenzeit schon etwas mehr und in Menschenzeit sehr, sehr lange.

Gott lehnt sich über die Himmelskante und sieht hinab auf Rom, wo die versammelten älteren Herren in Rot den Papst anblicken und die Welt nicht mehr verstehen. Wie auch? Sie sind jetzt arbeitslos, auf einmal nicht mehr mächtig und sie wissen so gar nicht, was sie nun anfangen sollen.

"Hey Papa", Gottes Sohn gesellt sich zu ihm. "Was ist denn da auf Erden los?"
"Sie sind endlich vernünftig geworden, naja, wenigstens einer von ihnen: Der Papst hat sich von einer Last befreit. Die anderen haben es nur noch nicht erkannt."
"Alles auf Anfang?", fragt Gottes Sohn.
"Nicht ganz, aber alle Möglichkeiten sind wieder offen. Endlich."

Unten in Rom bombardieren die Kardinäle ihren Papst mit Fragen.
"Was hast du dir dabei gedacht?"
"Was machen wir nun mit unseren schönen Kirchenhäusern?"
"Wem geben wir jetzt die Richtung vor?"
"Sollen alle unsere mühsam erarbeiteten Gesetze und Regeln in den Wind geschossen werden?"
"Wo soll …"
Der Papst hebt müde seinen Arm. "Geht nach Hause", sagt er. "Schlaft eine Nacht drüber. Ich nehme meine Entscheidung nicht zurück. Wir sehen uns morgen um 8 am Ufer des Tiber neben der Engelsburg." Und er lässt die verdutzten Kardinäle einfach stehen.

"Was war jetzt das?", fragt oben an der Himmelskante der Erzengel Michael, der auf seiner Nachmittagsrunde bei Gott und seinem Sohn vorbeischaut.
"Der Papst hat die Kirche geschlossen – für immer", erklärt Gottes Sohn.
"Brauchen sie Hilfe da unten?", fragt Michael.
"Ich bin nicht sicher", sagt Gott. "Warten wir morgen ab."

Schon vor 8 waren die Kardinäle am Ufer des Tiber, alle in ihren roten Roben, um wenigstens so ein Stückchen Wichtigkeit zu signalisieren. Der Papst kam barfuß und in leichtem Gewand. "Lasst uns im Flusswasser die Füße vertreten. Das wird am frühen Morgen die immer noch erhitzen Gemüter kühlen." Und er klettert auf einen Stein am Ufer, taucht den linken Fuß unter Wasser. Dann watet er langsam in den Fluss.
"Wie jetzt?", einer der Kardinäle ist entsetzt. Ein anderer macht es dem Papst nach und dann ein zweiter. Sie spüren Steine und Sand unter den Füßen, fließendes Wasser um ihre Knöchel. "Schööön!", entfährt es einem. Bald steht nur noch eine kleine Gruppe der Hartnäckigen in Lacklederschuhen am Ufer.

"Die Unbelehrbaren", seufzt Gott oben an der Himmelskante. "Michael, ihnen schickst du einen deiner Engel im Traum. Sie sollen sich erinnern, wie es war in ihren Kindertagen, als sie barfuß und unbeschwert die Welt entdeckt haben. Damals kannten sie keine Grenzen und sie pfiffen auf mühsame Gesetze. Das ganze Leben stand ihnen offen mit all seinen Farben. Damals, als sie neugierig waren und sich anfreundeten mit sich selbst und mit den Menschen – und mit mir."