Donnerstag, 22. Dezember 2016

Brief einer Pendlerin


Liebe Bahn,

ich bin sehr beeindruckt vom Einfallsreichtum und den immer neuen Aktionen, mit denen wir Kunden unterhalten werden. Heute durfte ich Teil eines Abenteuers werden, das zu erleben mir bislang versagt war:

Auf dem Heimweg nach einem kurzen Aufenthalt an einem der Unterwegsbahnhöfe, an dem unser Zug freundlicherweise einem anderen den Vortritt ließ - wären doch nur alle so rücksichtsvoll, die Welt könnte so viel besser sein - setzte der Zug seine Fahrt fort, zog ein bisschen das Tempo an, um die leichte, altruistisch bedingte Verzögerung aufzuholen, und - verfehlte die nächste Haltestation nur ganz knapp, bremste abrupt, aber mit ganzer Kraft und kam endlich nur einige Dutzend Meter hinter dem Bahnhof zum Stehen. Puh! Da standen wir nun. Die Mitreisenden, die eigentlich aussteigen wollten und sich schon an der Tür positioniert hatten, waren hin und her gerissen, ob sie sich dem Abenteuer tatsächlich an dieser Stelle entziehen sollten. Für einige war die Verlockung zu groß und sie nahmen wieder Platz, gespannt, was noch kommen sollte. Nach langem Warten kam ein Knacken aus den Lautsprechern, eine Stimme meldete sich mit einer Durchsage - einer dieser seltenen beglückenden Momente! "Wegen einer technischen Störung verzögert sich die Fahrt auf ... es geht bald weiter." Beruhigt lehnte ich mich zurück und zog ein paar Arbeitsblätter aus der Tasche, immer gerüstet für alle Fälle. Nach einer weiteren Weile und einem kurzen Knacken im Lautsprecher begannen die ersten Reisenden mit der Kontaktaufnahme zur Außenwelt, informierten Familie und Freunde über Aufenthaltsort, Stand der Dinge und erhoffte Ankunftszeit. Da plötzlich! Was keiner zu diesem Zeitpunkt zu glauben gewagt hatte: Der Zug setzte sich in Bewegung, behutsam und langsam tastete er sich durch die dunkle Nacht - Meter um Meter - zurück an den verpassten Bahnhof. Schweren Herzens trennte sich hier ein Teil der Reisenden und verließ den Zug, der nach weiterer Pause und rücksichtsvollem Vorbeilassen eiliger Züge mutig seinen Weg in die ursprüngliche Richtung fortsetzte, um dann aber doch wegen "technischer Störung - wir bitten, dies zu entschuldigen" vorzeitig zwei Stationen vor dem Ziel aufgeben und enden zu müssen. Ich war zuhause und beneidete die Weiterreisenden, die es in neue, ferne Bahnabenteuer zog, fast ein bisschen.

Liebe Bahn, vielen Dank für diese adventliche Erfahrung des Wartens. Jetzt kann Weihnachten kommen!