Sonntag, 22. März 2015

Ich habe keine Hände als eure


Predigt zu Lk 19,1-10 für eine Fastenandacht zur Synode im Bistum Trier 2013-16

   
 

Liebe Gemeinde,
ich habe mir Gedanken gemacht, wie ich Sie heute Abend begrüßen soll, welche Anrede ich wählen soll. Mein kluges zweijähriges Patenkind hat geraten, ich solle sagen: Guten Abend. Nach meinem ersten Schmunzeln, fand ich die Idee gar nicht so schlecht, ist es doch ein päpstlicher Einstieg. Denn das waren ja auch die ersten Worte, die Franziskus als frisch gewählter Papst an das Volk richtete.

Also, guten Abend, liebe Gemeinde!

Seit vergangenem Sommer bin ich Synodale. Ursprünglich hat mich die Kolpingjugend Diözesanverband Trier als Vertreterin der Jugendverbände vorgeschlagen. Nach dem Rücktritt der erstgewählten Jugendverbandsvertreterin bin ich als Mitglied in die Synode nachgerückt. Die dritte Vollversammlung Anfang letzten Oktober war meine erste und zum Einstieg und Ankommen ganz gut geeignet. Zu Beginn bekam ich – wie alle Synodale – eine Urkunde vom Bischof und diesen Synodenschal, der bei den gemeinsamen liturgischen Feiern getragen wird.

Am ersten Abend der Vollversammlung präsentierten alle Sachkommissionen ihre bisherige Arbeit, ihre Zwischenergebnisse, aber auch ihre Fragen auf einem sogenannten "Marktplatz". Dort gab es Gelegenheit zu regem Austausch, zu Gesprächen mit einzelnen Kommissionsmitgliedern, um tiefer in die Themen einzusteigen und auf Plakaten Anregungen für die Weiterarbeit zu hinterlassen. Mir hat das einen guten Überblick darüber verschafft, wo die Synode steht. Und ich habe gestaunt, wieviel Auf- und Umbruch da zu spüren war. Der Wunsch nach Veränderungen – in strukturellen wie inhaltlich-pastoralen Fragen – ist groß. So hat die Sachkommission 3 "Zukunft der Pfarrei", der viele Priester angehören, ganz plakativ und überspitzt formuliert: "Die alte Pfarrei ist tot!" Es wird unter anderem beklagt, dass zuviel Verwaltungsarbeit in den großen Einheiten auf den Pfarrern lastet und kaum noch Zeit für die Seelsorge lässt. Dass der Druck so hoch zu sein scheint und auf der Synode so deutlich benannt wird, hat mich überrascht.
Viele Wege und Modelle – auch solche, die in anderen Bistümern und Ländern schon gedacht und umgesetzt wurden – werden in den Sachkommissionen angeschaut, nachgedacht oder neu entwickelt. Oft passen die Begriffe, die wir heute verwenden, nicht mehr oder hängen zu sehr am bisherigen Verständnis. So wird auch um Worte, Namen und Formulierungen gerungen. Die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und im geschützten Raum der Synode und der Kommissionen alle Möglichkeiten zu denken, erlebe ich als hoch. Es geht um nicht weniger als um die Zukunft der Kirche von Trier, um die Verwirklichung des Reiches Gottes in der Kirche von Trier. Wieviel Aufbruch ist dazu nötig und wieviel Bewahren ist möglich? Oder umgekehrt: Wieviel Aufbruch ist möglich und wieviel Bewahren nötig?
An den folgenden zwei Tagen der Oktober-Vollversammlung hat jede der zehn Sachkommissionen ihren Arbeitsstand noch einmal im Plenum vorgestellt. Da wurden Fragen diskutiert, Anregungen und Vorschläge gegeben, Bedenken und Gegenpositionen formuliert. Die Diskussionen und Begegnungen auf der dritten – also meiner ersten – Vollversammlung habe ich als offen und konstruktiv erlebt. Am Ende habe ich mich dann entschieden, in der Sachkommission 8 mitzuarbeiten: "Die Vielfalt der Charismen entdecken und wertschätzen".
In die Arbeit dieser Sachkommission kann ich mein Verständnis von kirchlicher Jugendverbandsarbeit und ehrenamtlicher Verbandsarbeit ganz allgemein einbringen. Für das Synodenhandbuch habe ich geschrieben:

"Für viele Menschen ist Jesu Verheißung vom Leben in Fülle (Joh 10,10) in unserer Kirche nicht mehr spürbar, sie suchen Erfüllung außerhalb. Doch wir haben in unseren Jugend- und Erwachsenenverbänden eine Fülle an Leben, an Lebenserfahrungen und Talenten. Diese Talente zu fördern, nicht zu beschränken, diese Lebenserfahrung konstruktiv einzubinden in einer offenen einladenden Kirche – das ist meine Motivation."

Und das ist mir wichtig bei der Entwicklung von Empfehlungen und Handlungsoptionen, die dem Bischof am Ende aus jeder Sachkommission per Synodenbeschluss übergegeben werden. Unsere Sachkommission trifft sich etwa alle 4 Wochen. Bei den Treffen arbeiten wir intensiv, kreativ und in einer sehr angenehmen und offen Atmosphäre miteinander.

In der letzten Woche hat meine Mitsynodale hier bereits von den Inhalten unserer Sachkommission 8 berichtet. Was ist ein Charisma, welche Schritte machen wir gerade. Das möchte ich nicht alles wiederholen. Vielleicht noch einmal grundlegend: Ein Charisma ist eine Gnadengabe, die dem einzelnen Menschen von Gott geschenkt ist, damit er oder sie es einsetzt für andere und so mitbaut am Reich Gottes. Mein Charisma kann ich nicht selbst bestimmen, meist wird es von meinen Mitmenschen erkannt. Manche Charismen wirken unentdeckt, dann, wenn sie in die Welt hineinwirken wie ein stilles Gebet. Jeder Mensch ist von Gott beschenkt und darum ist es wichtig, Strukturen, Orte, Freiräume zu schaffen, wo jedes Charisma sich entfalten kann.

Unsere Sachkommission sieht die Zukunft in einer charismenorientierten Kirche. Nicht mehr die Frage "Was muss erledigt werden und wer macht’s?" steht dann in Vordergrund, sondern "Wer kann was? Und wie und wo kann er oder sie es einbringen?". Diese geänderte Frage- oder Blickrichtung wird gefördert durch eine gelebte Kultur der Offenheit. Und darauf möchte ich etwas näher eingehen.

In unserer Kirche, in unseren Verbänden wirken wir nach außen zu oft als geschlossene Gesellschaft. Wir sprechen zwar Einladungen aus: "Interessierte sind herzlich willkommen!" Aber das ist nicht spürbar. Häufig hören wir: "Ihr seid da ein so eingeschworener Verein, ich will da lieber nicht stören." Sich aufraffen und in ein fremdes Haus gehen – und für nicht wenige ist auch das Pfarrheim oder die Kirche ein fremdes Haus, dorthin gehen, das fällt schwer, besonders nach einem langen Arbeitstag oder wenn das bequeme Sofa oder – jetzt im Frühjahr und im Sommer – der eigene Garten viel einladender sind.

In der eben gehörten Lesung gibt Jesus uns ein ganz anderes Beispiel:
Sein Blick fällt nicht bloß auf die erste Reihe der am Straßenrand stehenden Menschen. Sein Blick geht weiter, er sieht auch den kleinen und von den anderen ungeliebten Zachäus da oben in seinem Baum hocken. Und dann macht Jesus einen überraschenden Schritt auf ihn zu. Er sagt nicht: "Ach Zachäus, schön, dass ich dich sehe. Komm doch mal vorbei, wir treffen uns immer um acht am Brunnen." – Nein, Jesus sagt: "Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein." (Lk 19,5) Ich muss, nicht: ich würde gerne – im griechischen Urtext wie in den Übersetzungen steht es so: Ich muss zu dir kommen. Heute!

Jesus geht mit einer Offenheit auf die Menschen zu, die an die Grenzen geht. Die Umstehenden empören sich: Wie kann er zu einem Zöllner gehen? Doch Zachäus, dieser Zöllner, kann sich durch diese Begegnung mit Jesus ändern, kann zu dem werden, der er wirklich ist: zu einem Menschen, der gesehen wird, der ernst genommen wird, um seiner selbst willen geliebt. Jetzt kann er wieder gut machen, was er zuvor falsch gemacht hat: zurückgeben, was er zuviel genommen hat, und seinen Reichtum teilen mit den Armen. Jetzt kann er teilnehmen an der Gemeinschaft und sich mit seinem Charisma einbringen.

Eine Kultur der Offenheit ist getragen von einer Haltung der offenen Arme. Wenn ich zu meinen Neffen gehe und mich runterbeuge – mich also auf Augenhöhe begebe – und die Arme weit öffne, passiert immer das Gleiche: Die Jungs kommen angerannt und werfen sich in meine Arme. Offene Arme sind einladend, mehr als ein ausgeprochenes oder geschriebenes Wort es je sein kann. Offene Arme schaffen Vertrauen, sie schaffen Barrieren ab, ich öffne mich. Ich möchte Sie einladen, jetzt hier die Arme zu öffnen.

Was jetzt passiert ist Begegnung und Vernetzung. Wir stoßen an den Nachbarn an, kommen in direkten Kontakt. Aber wir spüren auch, wenn wir länger so stehen oder sitzen, werden die Arme schwer. Diese Haltung ist nicht immer einfach. Es fällt z. B. schwerer, die Arme zu öffnen für Menschen, die wir nicht auf Anhieb mögen. Und wir bieten mit dieser offenen Haltung ja auch Angriffsfläche für andere und machen uns verletzlich. Jesus hat genau das getan, er hat die Arme weit geöffnet für die Begegnung mit den Menschen, mit uns Menschen. Er hat sich verletzlich gemacht bis ans Kreuz. Und wenn Thomas seine Finger in Jesu Wunden legt, dann wird diese Verletzlichkeit zum Erkennungszeichen. (Joh 20,27) Es ist eine große Herausforderung für uns, die in der Nachfolge Jesu liegt: aktiv und mit einladender Haltung die Begegnung mit Menschen suchen: sie sehen, sie ernst nehmen, indem wir in ihre Welt gehen. So wie Jesus in die Welt, in das Zuhause des Zöllners Zachäus gegangen ist, trotz aller Empörung der Umstehenden. "... ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein." (Lk 19,5)

Eine Kultur der Offenheit braucht offene, einladende Arme, offene Augen, offene Sinne und offene Herzen. Im weiteren Verlauf der Synode und darüber hinaus werden wir, nicht nur die Synodalen, sondern wir alle in den Gemeinden und Verbänden unseres Bistums darum ringen und das üben: die Argumente der anderen bedenken, uns einlassen auf neue Ideen, neue Wege, und vielleicht auch auf ganz neue Strukturen und auf ein ganz neues Handeln im miteinander Kirche sein.

Ich habe ein Bild mitgebracht aus der Seitenkapelle der Marienburg an der Mosel. Dort hängt der Korpus Jesu und anstelle der Arme ist ein Schriftzug: "Ich habe keine Hände als eure". Das ist unsere Sendung, sein Auftrag an uns: Tut ihr, was notwendig ist zum Aufbau des Reiches Gottes. Tut ihr, wie ich es euch vorgelebt habe. Geht hinaus zu den Menschen, setzt eure Talente und Fähigkeiten ein für die Gemeinschaft, auf dass diese Talente zu Charismen wachsen und wirken. Bringt die Frohe Botschaft und verändert die Welt!

Der Satz "Das war schon immer so" ist dem Aufbau des Reiches Gottes nicht dienlich, er ist dem Leben nicht dienlich. Leben ist Veränderung, Wachstum. Das sehen wir an unserem eigenen Leben von der Geburt bis jetzt und noch weiter, das sehen wir auch in der Natur. Das Leitwort der Misereor-Fastenaktion 2015 ist: "Neu denken! Veränderung wagen."

Und das können wir ganz zuversichtlich wagen. Wir haben alles, was wir dazu brauchen:
Denn einer – Jesus – geht mit uns, wie er verheißen hat: "Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt." (Mt 28,20) Wir sind nicht allein, niemals!
Und wir sind gerüstet und beschenkt von Gott: Entdecken wir die Vielfalt unserer Charismen, wertschätzen und fördern wir sie, damit sie reiche Frucht bringen!
Dann ist schon heute "diesem Haus das Heil geschenkt worden." (Lk 19,9)
    

Sonntag, 15. März 2015

Lernerfolg


Erkläre einem 6-Jährigen Sonnen- und Mondfinsternis, während alle nach dem Kaffee gemütlich auf dem Sofa sitzen: Mit Spielsteinchen, das sich vor Spielsteinchen und im zweiten Versuch vor eine Taschenlampe schiebt, war die Sache mit den Lichtkranz von selbst klar. Aber wer schiebt sich wann in wessen Schatten? - "So, ich bin die Sonne, der Opa ist die Erde und du bist der Mond. Jetzt lauf um den Opa! Stop! Jetzt stehst du zwischen Sonne und Erde und von der Erde kann man die Sonne nicht mehr sehen. - Lauf weiter, stop! Und jetzt ist der Opa, also die Erde, zwischen Sonne und Mond ..." Da erhellt sich das kleine Gesicht: "Ahhh! Jetzt versteh ich! Jetzt hab ich wieder was Neues gelernt."




Schön zu sehen, wie aus der Finsternis ein Licht aufgeht.

Mittwoch, 4. März 2015

Staunen atmen


Geschrieben für eine Frühschicht in der Fastenzeit:

Den Atem anhalten – so ist die heutige Frühschicht überschrieben. Den Atem halten wir ganz bewusst an, wenn wir besonders leise sein, uns verstecken und nicht auffallen wollen. Aber es gibt auch andere Situationen, wo uns der Atem wegbleibt:
Wenn uns der Atem stockt vor Angst, wenn wir etwas Bedrohliches erleben. Aber auch wenn wir etwas atemberaubend Schönes sehen, wenn uns das Staunen überrascht. In beiden Situationen – der der Angst und der des Staunens – werden wir uns unseres Lebens in besonderer Weise bewusst. Und in beiden Situationen stockt uns der Atem für einen Moment, um dann ganz von selbst wiederzukommen. Atmen geht automatisch, wir müssen nichts dazu tun. Der Atem, der Lebensatem ist uns von Gott geschenkt.
Er blies dem Menschen den Atem ein und machte ihn zu einem lebendigen Wesen. In einer textnahen Bibelübersetzung heißt es: "So wurde der Mensch eine lebende Seele."1

Den Atem anhalten – heißt für uns in der Fastenzeit innehalten, das Leben für einen Augenblick anhalten, den Moment genießen, auskosten. Für kurze Zeit wird der Alltag, die Hektik, die Welt ausgeblendet. Wir sind ganz im Hier und Jetzt. Nichts lenkt uns ab von dem, was uns staunen lässt. Etwas, das uns plötzlich überfällt mit seiner Schönheit, seiner Eigenheit, ganz unerwartet und geschenkt: vielleicht ein leuchtend roter Sonnenaufgang, das erste Grün an kahlen Bäumen, ein Lichtstrahl durch buntes Glas, der eine besondere Atmosphäre zaubert. Vielleicht eine sanfte Berührung, das Zwitschern der Vögel am frühen Morgen, ein Lächeln, ein Kind, das mit offenen Armen und vertrauensvoll auf uns zu läuft. Der besondere Moment, in dem Leben geboren wird oder vergeht, wenn Versöhnung wieder möglich ist, wenn Heilung gelingt.

Den Atem anhalten – heißt auch, wieder zu Atem zu kommen, im hektischen Tagesablauf einmal zur Ruhe finden. Bewusst Stopp sagen, Pause machen, um sich zu konzentrieren auf das Wesentliche, das Wichtige. So können wir uns neu sortieren, neue Energie tanken, Kraft schöpfen, von der Quelle des Lebens trinken.
Im Staunen öffnen wir uns neu für das Leben, das Herz wird weit, der Kopf wird leer und macht der Seele Platz zum Tanzen.

Vielleicht gelingt es uns in der Zeit bis Ostern besonders, unserem Lebensatem zu folgen, das Staunen neu zu lernen. Goethes Faust hat eine tiefe Sehnsucht danach und geht dafür sogar einen Pakt mit dem Teufel ein: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen …“
Am Ende aber hat er auf den Falschen gesetzt. Denn Leben und Staunen, Atem und Seele sind uns von Gott geschenkt ohne Gegenleistung, einfach so aus Liebe zu Seiner Schöpfung.


1 Gen 2,7 Elberfelder Bibel

Donnerstag, 1. Januar 2015

Fabula rasa























"Du weißt nicht, was ich male.""Ein Seepferdchen?""Nein. Das ist ein Hai. Hier das ist die Flosse", mein 4-jähriger Neffe zeigt erst auf die linke Seite seiner Zeichnung, dann auf die rechte, "und das ist das Maul und der Bauch. Und unten hat er noch eine Flosse. Drei Flossen. Und der Strich ist das Gehirn." Er nickt ernsthaft. "Haie sind gefährliche Fische.""Ja, das sind Raubfische."

Diese kleine Szene hat sich am ersten Weihnachtstag abgespielt. Seitdem denke ich darüber nach. Über die Raubfische, die mich in den vergangenen Monaten umkreist haben: Gewohnheiten und Befindlichkeiten, Stimmungen und Gefühle, die – wenn sie übermächtig werden – gefährlich sind.

In einer Ansprache an die Mitarbeiter der Kurie hat Papst Franziskus kurz vor den Feiertagen fünfzehn Krankheiten benannt, die er nicht nur für die Kurie, sondern für die ganze Kirche beschreibt. Da, wo Menschen miteinander leben, arbeiten, zu tun haben, da lassen sich die vom Papst aufgezählten Krankheiten wie Narzissmus, Halsstarrigkeit, Eitelkeit und Arroganz ausmachen.

Ich nehme das Bild dieses Hais mit in das gerade begonnene Jahr als Mahnung für einen wachsamen Umgang mit meinen Adebars, Hennings, Gieremunds und Boldewyns 2015.