Sonntag, 24. Juni 2012

Poetische Intervention


Du sitzt im Zug, irgendwo drei Bänke hinter dir klingelt ein Mobiltelefon. Und dann telefoniert jemand lautstark und unterhält für eine viel zu lange Weile das gesamte Abteil. Du erfährst Dinge, die dich erstens nicht wirklich interessieren und die dich zweitens auch gar nichts angehen. Und drittens wolltest du eigentlich lesen, schlafen oder deinen eigenen Gedanken nachhängen.

Am Wochenende war ich wieder mal mit der Bahn unterwegs und wurde mehrmals ungewollt zur Mithörerin. Die dann und wann auftauchenden Funklöcher schienen immer noch lautere Rufe ins Telefon heraufzubeschwören: "Hallo? Bist du noch da? Ja? Gut, also wo waren wir?""Im Zug, wir sind im Zug", lag es mir auf der Zunge, "und die wenigsten hier interessiert, was oder warum irgendwer gestern oder gerade eben noch gegessen, gesagt, getan oder auch nicht getan hat." Aber ich hielt mich zurück. Statt dessen kam mir ein Gedanke: Wenn schon alle mithören müssen, warum dann nicht etwas Kultur? Zum Beispiel ein Gedicht! 

Wenn also wieder jemand das gesamte Abteil zum Mithören eines allzu laut geführten Telefonats zwingen will, dann erheben sich nach und nach die Leute und beginnen, ein Gedicht zu rezitieren. "Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich ..." "Festgemauert in der Erden ..." – "Zu Bacharach am Rheine ..."
Bald stehen alle Fahrgäste und durch den Zug schallen Verse und Reime. Diese Vorstellung gefällt mir. 

Ich geh' dann mal üben und frage mich währenddessen, ob ich tatsächlich den Mut aufbringen und aufstehen würde. "Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben. ..."
  

 (Schiller: Die Bürgschaft / Das Lied von der Glocke, Brentano: Lorelay, Goethe: Der Zauberlehrling)

Freitag, 1. Juni 2012

Geburt[s]tag


nach der Finsternis der Nacht
wenn der See noch schläft
            friedvoll und glatt
wenn ein frischer Windhauch
            die Blätter der Bäume weckt
wenn Wiesen und Weiden sich baden
            im glitzernden Tau
wenn die Vögel den neuen Tag schon ahnend
            ihr Morgenlied anstimmen
wenn erste Boten von Wärme
            über den Rand des Horizonts klettern

            tief einatmen
            die Seele öffnen und
            das Licht der Welt erblicken